
Müde, energielos und überfordert fühlen sich wahrscheinlich alle Eltern mit Kleinkindern. Doch wann geht es über das normale Mass hinaus, ist professionelle Hilfe eine gute Idee? Diese und weitere Fragen durfte ich Christina Dölker, Psychotherapeutin der Unterdorf Praxis in Thalwil stellen. Das Interview habe ich bereits Ende November aufgenommen und dann sind die typischen Symptome einer Familie mit Kleinkind dazwischengekommen, jede Menge verschiedene Viren und weitere besondere Herausforderungen für den Alltag die der zeitnahen Publikation einen Strich durch die Rechnung gemacht haben.
Liebe Christina, vielen Dank, dass du dir Zeit genommen hast für unser Gespräch. Wie kam es dazu, dass du Psychotherapeutin hier in der Schweiz und der Unterdorf Praxis in Thalwil geworden bist?
Ich wusste eigentlich schon immer, dass ich etwas im Medizinischen Bereich studieren wollte. Als ich dann per Losverfahren Konstanz am Bodensee und Psychologie zugewiesen bekommen habe, hat das Schicksal in vielerlei Hinsicht sehr gut für mich gewählt. Vor neun Jahren hat es mich privat in die Schweiz gezogen und über ein paar weitere Stationen bin ich vor knapp zwei Jahren in die Unterdorf Praxis in Thalwil eingezogen. Ich war hier erst als Patientin während meiner eigenen Schwangerschaft bei Therese in der Akupunktur (Anmerkung: Mit Therese durfte ich bereits zum Thema Akupunktur in der Schwangerschaft sprechen und das verlinke ich euch natürlich nochmals gern). Ich fand den Ansatz super, hab mir aber schon bei meinem ersten Besuch gedacht, dass eine Psychotherapeutin hier eigentlich noch fehlt. Das Team hat das auch so gesehen und es hat sofort super gepasst, als ich gefragt wurde, ob ich mir den Einstieg nicht vorstellen könnte.
Ich vermute, dass die Ängste seit 2020 deutlich mehr geworden sind. Ist das richtig?
Ja ich sehe schon mehr Bedarf zum Reden als vor Covid. Ob das mehr Ängste sind, kann ich so nicht sagen, die Welt hat sich nach dem Lockdown aber wieder deutlich verändert und ich habe Patienten die Schwierigkeiten haben mit der Flut an sozialen Kontakten und der Arbeitswelt wieder klar zu kommen.
Bei den meisten Patientinnen und auch Patienten, die ich betreuen darf, dreht es sich aber um die Themen «Junge Frauen und Trauma», «Ängste rund um die Schwangerschaft» und «Erschöpfung mit Kindern».
Wie weiss ich denn ob meine Themen wirklich eine professionelle Betreuung brauchen und ich mich nicht einfach «zusammenreissen» muss?
Der deutlichste Indikator ist Zeit. Wenn man aktiv etwas tut, um den Status Quo zu verbessern und es mag nicht besser werden dann würde ich es raten ein Gespräch zu suchen. Konkret heisst das zum Beispiel:
- Wenn schon die Vorstellung von Aktivität grauenvoll ist und dieses Gefühl über mehrere Wochen nicht weg geht
- Wenn der Babyblues im Wochenbett länger als eine Woche dauert und nichts es besser macht
- Wenn mehrere Menschen einem sagen, dass etwas nicht mit dir stimmt
Und was passiert dann? Wie muss ich mir die Sitzungen mit dir vorstellen?
Grundsätzlich geht es immer erstmal darum schnell Entlastung zu finden. Wir machen eine Aufklärung, warum etwas so ist wie es ist. Oftmals hilft bereits das Aussprechen der Tatsachen, ohne dass es jemanden belastet, d.h. es zu jemanden sagen zu müssen der dir nahe steht.
In einem nächsten Schritt verstehen wir dann, ob etwas vorher passiert ist und ob bestimmte Ereignisse diesen Gemütszustand hervorgerufen haben. Das kann beispielsweise in Bezug auf eine Geburt ein Kontrollverlust sein oder ein hoher Blutverlust.
Braucht es direkt die Sitzung bei der Psychotherapeutin?
Nein überhaupt nicht! Ich glaube sehr stark an den «Selbstheilungsprozess», denn jeder Mensch und jede Familie hat in sich Heilungskräfte. Vieles kann man selbst steuern, aber man muss in der Lage sein zu erkennen, dass man Unterstützung braucht, um aus dem Gemütszustand herauszukommen und sich zu finden. Das Konzept Achtsamkeit und ein aktives Hervorrufen von positiven Erlebnissen sind essenziell. Oft ist es einfacher dies zusammen mit Experten, seien es Hebammen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburten oder Psychotherapeuten zu erarbeiten.
Viele meiner Patientinnen kommen mit der Schwangerschaft und/oder nach der Geburt. Es ist einfach eine Lebensphase, die einschneidend ist. Manchmal denke ich mir schon, dass man sich mehr vorbereiten sollte. Frauen sind heute mehr nebenher schwanger. Früher waren Mütter auch näher bei ihren Müttern. Das Mehrgenerationenleben, das findet so nicht mehr statt. Stattdessen bekommen Frauen oft ein Bild von Instagram, wie Mama zu sein hat. Das ist dann schon sehr realitätsverzerrt und baut einen immensen Druck auf.
Das stimmt, ich habe auf Instagram noch nie eine Mutter gesehen, die ihr Kind anschreit. Ich habe aber schon von einigen Mamis gehört, die sich nicht wiedererkennen, wenn sie ihre Kinder furchtbar anschreien. Was hat es damit auf sich?
Schreien ist ein Schutzmechanismus und ein Versuch Ordnung herzustellen. Die Eltern schreien ja nicht einfach so, sondern wenn das Kind etwas macht, was bereits mehrfach ein Thema war oder etwas kaputt geht oder sonst eine weniger normale Situation vorfällt. Ein Grund kann sein, dass man diese Verhaltensform aus der eigenen Biographie kennt. Dann hilft nur aktives üben, damit das Schreien weniger Gewicht bekommt. Ganz wichtig ist Grenzen und Bedürfnisse wahrnehmen. Und vor allem Schlaf. Schlafmangel macht Eltern so viel empfindlicher und nimmt jeglichen Schutz.
Was ist dein Wunsch für Frauen in Bezug auf die Schwangerschaft und das Muttersein?
Grundsätzlich fände ich es mega toll, wenn Frauen sich aktiv auf ihre Rolle als Mutter vorbereiten könnten, analysieren könnten, ob sie im Einklang mit sich selbst sind oder ob es Themen gibt, an denen sie schon lange arbeiten wollten (Themen zum Beispiel aus der eigenen Familie, Partnerschaft, Freundeskreis, Trauma). Somit bauen sie sich automatisch ein Sicherheitsnetz und sind stabiler für eine Zeit, in der sie sehr viel verwundbarer sein werden als früher.
Du erwähntest vorher den «Selbstheilungsprozess», hast du hierzu vielleicht ein paar Büchertipps/ Autoren, die einen dabei unterstützen?
- Jesper Juul hat super Bücher zum Thema Erziehung geschrieben (bspw. «Familienberatung», «Erziehen ohne Schimpfen und Schreien»)
- Nora Immlau schreibt über bedürfnisorientierte Elternschaft, wie man sich selbst wichtig nimmt. Sie ist selbst Psychologin mit 4 Kindern und kennt sowohl die theoretische als auch die praktische Seite
- Und mein absolutes Lieblingsbuch, weniger auf Kinder, sondern mehr auf sich selbst bezogen: Friederike Potreck – Von der Freude den Selbstwert zu stärken
Weitere Themen und Interviews rund um die Schwangerschaft und das Eltern sein findet ihr ici.
Christina Dölker erreicht ihr in der Unterdorf Praxis in Thalwil (ZH) oder auf ihrer Website.